Leonberg, 18.
April 2006. «Ich bin jetzt seit einem Jahr Angestellter, zahle Steuern
und bin sehr eingebunden», sagt Lothar Späth. Im Mai 2005 berief die
Investmentbank Merrill Lynch ihren damals 67-jährigen Europa-Berater zum
Vorsitzenden der Geschäftsführung ihrer Management-Gesellschaft in
Frankfurt.
Sie erbringt
Dienstleistungen für die operativen Einheiten – das Kapitalmarktgeschäft
und die Investmentfonds – und ist selbst nicht im Bankgeschäft tätig.
Juristisch werden die Einheiten von London aus geführt. Anders als seit
Sommer 2003 berät Späth nun nicht nur. «Ich greife direkt ein in die
Projekte und führe Verhandlungen.»
Späth war zur
rechten Zeit da. Die Investmentbank strukturierte um: Bereichsleiter
tragen die operative Verantwortung der einzelnen Geschäftsbereiche der
Bank, der Posten des bisherigen Deutschland-Chefs Matthias Mosler wurde
überflüssig. Ein Mann wie Späth war nützlicher, auch wenn er nicht aus
dem Bankgeschäft stammt. Späth wirkt mit bei der Schaffung neuer
Finanzierungsinstrumente für den Mittelstand, im Geschäft mit
notleidenden Krediten und bei Kontakten zu Banken in Deutschland. Zu
seinen Aufgaben gehört, Unternehmen zu kaufen und zu verkaufen sowie
dabei große Anleihen zu platzieren. «In der Zeitung stand
beispielsweise, dass wir Porsche betreut haben bei dem VW-Deal. Mehr
kann ich nicht sagen.»
Späth legt Wert
auf die Feststellung, er habe sich mit Mosler stets gut verstanden.
Im gleichen
Atemzug erzählt er stolz, dass Stan O’Neal, Chef der Bankzentrale in New
York, geradewegs auf ihn zukam. Nun hat er noch weniger
Zeit, strich
Vortragszusagen nochmals deutlich und gab Aufsichtsratsmandate
ab: Mandate in
Indonesien und Texas, weil sie viel Reisezeit erforderten,
andere Mandate,
weil sie Interessenkonflikte bedeuteten. Zu seinen Büroplätzen in
Leonberg und London kam nun Frankfurt noch hinzu.
«Wieder mal
reizte die Neugier. Ich wollte einfach wieder ganz neu in etwas
einsteigen»,
erzählt Späth begeistert: «Es ist spannend. Ich habe mit ganz jungen
Leuten zu tun, die meisten sind keine 40.» Ein solches
Generationen-gespann bringe beiden Seiten Gewinn. «Die sind hoch
qualifiziert im Bankgeschäft, sprechen meist mehrere Sprachen und stehen
unter permanentem Druck, erfolgreich zu sein. Ich habe viel von ihnen
gelernt.» Sie profitierten von seinem persönlichen Netzwerk und von
seinem breiten Erfahrungswissen, behauptet er.
Verhandle man
mit einem Mittelständler, der eine Finanzierung machen will
oder den Verkauf
des Unternehmens erwägt, helfen Erfahrung und Hinweise
auf ähnliche
Beispiele weiter als kluge Rezepte. «Die jungen Banker sind fachlich
unheimlich stark. Doch sie müssen auch komplizierte Kunden verstehen
lernen und von ihnen akzeptiert werden. Da konnten sie von mir lernen.»
Er zeige ihnen auch, wie man effizient Prioritäten setzt. «Wir müssen
nicht überall dabei sein und Olympiade spielen, obwohl die Aussichten
gering sind, eine Medaille zu erringen. In meinem Alter kann man
Zusammenhänge etwas weiter ausdeuten und besser abschätzen, wo gute
Chancen liegen. Man kennt Vorgeschichten.
Und man kann
etwas besser Ruhe in ein Verhandlungsgespräch bringen. Das fördert das
Vertrauensverhältnis.»
«Kluge Sätze aus
Großvaters Mund akzeptiert keiner. Die würden in Scharen
zu ihren
Vorgesetzten rennen. Prominenz hin oder her. Denn das bringt
ihnen nichts und
sie wollen den Erfolgsweg.» Auch die Rolle des mit allen Wassern
gewaschenen Alten auf dem Thron mochte er nicht spielen. Lieber ging er
ganz selbstverständlich mit zu Verhandlungen. «Denen war rasch klar, mit
dem kann man zurechtkommen, wir arbeiten zusammen.» Seniorität reiche
nicht, man müsse tatsächlich mithalten mit den 30-Jährigen und
gewaltigen Stress aushalten – physisch und psychisch. «Morgens hier,
abends anderswo, ununterbrochen gibt es Telefonkonferenzen, ständig neue
Informationen – Kommunikation ist alles. Ohne BlackBerry geht nichts.»
Diese Technik macht stets erreichbar; solange die Verbindung steht, kann
man überall E-Mails empfangen und senden sowie Daten aus dem
Firmennetzwerk abrufen. «Als Berater brauchte ich das nicht», erzählt
Späth. Nun erhalte er vieles zumindest zur Kenntnis, sei stets gefragt:
«Jeder soll sich einmischen, mitspielen, mitdenken. Man schließt sich
kurz, egal ob der eine im Zug sitzt und der andere auf dem Flughafen
oder ob die Uhr keine üblichen Bürozeiten anzeigt.»
Die Generationen
könnten stärker voneinander profitieren denn je, doch
man nutze das zu
wenig. Das liege teilweise an Sprachschranken. «Diese Banker können
schon gar nicht mehr am Stück Deutsch reden, die Hälfte des Vortrags ist
englisch, die Papiere sind es sowieso. Oft kamen sie schon als Kind
durch ihre Eltern weit herum. Ein Älterer tut sich schon mit deren
Wortschatz schwer.» Auf fachlicher Ebene sei keine lange Lebenserfahrung
möglich, weil sich im Globalisierungsprozess die Finanzmärkte von Grund
auf veränderten. Späth hält die Investmentbranche für Impulsgeber hin zu
flachen Hierarchien: «Es wird ungezwungen kommuniziert, obwohl natürlich
klar ist, wer an wen zu berichten hat. Und man kommt sofort zum Punkt.»
Es gibt keine Aufwärmgespräche über Wetter oder Fußball, eine
Betriebs-atmosphäre, bei der man auch viel Privates über Kollegen wisse,
auch nicht. Man arbeite im Team, sitze aber selten zusammen im Büro. Das
große Kapital eines solchen Konzerns sieht Späth im abrufbaren Wissen:
Im Computer-netzwerk stehen immense Datenmengen, die virtuelle
Merrill-Lynch-Universität zwingt andauernd zur Weiterbildung.
Alles geschieht
unglaublich schnell. Etlichen wird das nach einiger Zeit
unerträglich,
sie gehen und wenden sich anderen Aufgaben zu, sagt Späth. Er
fühle sich
manches Mal an Belastungsgrenzen. «Anders als die Jüngeren, die
noch an ihre
Karriere denken müssen, mache ich das letztlich freiwillig. Ich wollte
aber schon sehen, wie das funktioniert und ob ich es durchhalte.»
Mit 67 Jahren
ins Tagesgeschäft zurückzukehren, bleibt sicher die Ausnahme.
Späth will aber
viele in seinem Alter anregen, als Berater ihr Wissen
weiter zur
Verfügung zu halten – ob fachliches Wissen, Kenntnis über Kundenfelder
oder Erfahrungen im Umgang mit Menschen. Er habe schon als
Verwaltungsangestellter begriffen, wie sehr alt und jung voneinander
lernen können.
80 Prozent
seiner Zeit widme er heute Merrill Lynch, sagt Späth. Auszeit
gönnt er sich am
liebsten mit seinen fünf Enkeln. Seine Wahlkampfhilfe vor der
Landtagswahl in Baden-Württemberg am 26. März 2006 beschreibt er als
kurzen Politik-Ausflug und als romantische Vergnügungstour. «Ich habe
Günther Oettinger zuliebe ein paar Veranstaltungen in kritischen
Wahlkreisen gemacht.
Das hat mir Spaß
gemacht. Es waren schöne Veranstaltungen, wo man viele
Leute von früher
wiedersah.» Drei Wochen dauerte der Ausflug. «Die Leute
sehen in mir
nicht so den Wahlkämpfer. Ich sagte gleich, sie dürften nicht erwarten,
dass ich hier den Gegner verprügle. Zumal es in dieser Landtagswahl
ohnehin keinen Gegner gab.»
Späths Name
fällt häufig – gleich, ob es um Wirtschaft, Politik oder Image
geht. Als die
italienische Tageszeitung «Il Giornale» über die Lage in Deutschland vor
der Bundestagswahl 2005 berichten wollte, fragte sie ihn. Man setzte ihn
aufs Personalkarussell für die Wahl des Bundespräsidenten. Sein
Parteifreund,Kohls früherer Regierungssprecher Friedhelm Ost, krönte ihn
am 8.Oktober 2004 in Bad Honnef zum König der Aale, um das einstige
«Nizza am Rhein» wieder ins Gespräch zu bringen. Der bisherige
Amtsinhaber, der damalige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement,
und sein Nachfolger übertrumpften sich am Rednerpult. Clement: «Warum
macht Späth Werbung für Nescafé? Er will sich die Kaffeemaschine
sparen.» Späth: «Aale gehen zum Laichen in die Karibik. Deutsche gehen
statt zum Laichen in die Karibik.»
Kein anderer
Politiker oder Wirtschaftsführer erreicht als Werbestar so
hohe Werte wie
Späth. Nur Talkmaster Günther Jauch und Entertainer Harald
Schmidt sind
zugkräftiger und glaubwürdiger. Dies ermittelten das Düsseldorfer
Marktforschungsinstitut Innofact und die Fachzeitschrift «absatzwirtschaft»
Ende 2004 in einer Online-Befragung unter bundesweit 81 Marketingleitern
und 644 Endverbrauchern.
Bei den
Marketing-Chefs rangierte Späth vor den Ex-Fußballern Jürgen
Klinsmann und
Günter Netzer; sie halten ihn zudem für besonders seriös. Auch in der
Gunst der Verbraucher lag Späth weit vorne. Dem Politiker Späth wurde
oft eine zu große Nähe zur Wirtschaft vorgeworfen.
Seine
Unternehmerkarriere relativierte das Bild bei einigen, die seine
Politik
skeptisch beurteilt hatten. Sie schätzten nun ausgerechnet seine Nähe
zur Politik. Andere wiederum lehnten ihn dadurch erst recht ab. Mit
solchen Beziehungen sei vieles möglich, Späth überhöhe seinen Erfolg in
Jena. Kritik verblasst oft durch den Abstand der Zeitläufte. Wie aber
wird aus einem skandalierten Politiker ein über Parteigrenzen hinweg
gefragter Erklärer, Moderator und Krisenhelfer?
Späth ist auch
Ehemann, Vater und Großvater. Wo ist seine private
Seite? Welche
Rolle spielt sie?
Wie kam Lothar
Späth nach oben, weshalb hielt er sich, auch nachdem er
gestürzt war?
Was unterscheidet den grauhaarig gewordenen Mann mit dem
Lausbubenlächeln? Was ist typisch? Was hielt ihn auf dem Weg? Wie fing
es
an? Biografische
Annäherungen an einen Manager, Politiker, Baumenschen,
Verwaltungsbeamten.