Lothar Späth
gehört zu den seltenen Menschen, die es vermögen, in einem
einzigen
Lebenslauf hintereinander ganz verschiedene Leben zu führen. Vom
Rathauslehrling
hat er es zum Ministerpräsidenten unseres blühendsten Bundeslandes
gebracht, danach vom Manager eines Großunternehmens zum
Investmentbanker.
Der
Versammlungsredner der frühen Jahre verwandelte sich in einen
Fernseh-Talkmaster. Der Mann ohne Abitur und Universitätsstudium aber
ist am Ende Honorarprofessor für Medien und Zeitdiagnostik geworden. So
viele Häutungen machen nur wenige durch; so viele Erfolge dürfen nicht
viele erleben. Andererseits: So schmerzliche Niederlagen wie er musste
sonst kaum einer wegstecken. Sein fröhliches Naturell half Lothar Späth,
manches Scheitern zu verwinden, sein skeptisch-nüchterner Sinn jedoch
bewahrte ihn davor, dass ihm die Triumphe zu Kopf stiegen.
In der
vorliegenden Biografie fängt Marlis Prinzing die in vielen Nuancen
funkelnden
Facetten einer Persönlichkeit ein, die unter all denen, die der
Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen sechzig Jahren ihr Gepräge
gegeben haben, an Vielfalt und Beweglichkeit nicht ihresgleichen hat.
Späth hat sich immer alles zugetraut, sich jeder Aufgabe gewachsen
gefühlt. Lustvoll betrieb der die Politik, mit enormem Engagement
stürzte er sich in das Wirtschaftsleben, und mit seinem schwäbisch
eingefärbten Redefluss parlierte – nein: «schwätzte» – er sich zur
populären Bildschirm-erscheinung. Immer war er quecksilbrig, offen für
Neues, versessen darauf, die Dinge zu verändern und voranzutreiben – ein
Anreger, Macher, Krisenmanager. Gern schwamm er gegen den Strom.
Auf
beispielhafte Weise bewältigte der Ministerpräsident von Baden-
Württemberg den
Strukturwandel der Achtzigerjahre, in denen er sich als Konzernschmied
und im Dienste der Industrie seines Landes als rastloser Türöffner auf
allen Märkten der Welt betätigte. Doch förderte er Innovation und
Kreativität nicht nur auf dem wirtschaftlichen Feld. Ebenso gab er der
Wissenschaft in Baden-Württemberg wesentliche Impulse und der Kultur
ihren überragenden Rang: High Culture war ihm nicht minder
wichtig als High Technology. So hat er viel bewegt.
Es konnte nicht
ausbleiben, dass Lothar Späth auch bundespolitische Aufmerksamkeit auf
sich lenkte. Eine Zeit lang galt er in der Ära Kohl als Bonner
Reservekanzler. Solchen Ehrgeiz musste er freilich aufgeben, als beim
Bremer CDU-Parteitag sein und einiger Mitstreiter Versuch misslang,
Helmut Kohl aus dem Sattel zu stoßen. Wenig später ereilte ihn die
Traumschiff-Affäre. Üble Gerüchte – nie bewiesen und später von einem
Landtagsausschuss wie von der Justiz entkräftet – veranlassten ihn 1991
zum Amtsverzicht.
Wenige Monate
später, ein halbes Jahr nach der Wiedervereinigung, ging
er nach
Ostdeutschland. Als Vorstandsvorsitzender der Jenoptik sanierte er – mit
Milliardenzuschüssen der öffentlichen Hand – die maroden Zeiss-Werke
und machte Jena
zur Boomtown moderner Hochtechnologie. Als politischer
Unternehmer
erwarb sich der unternehmerische Politiker dort Meriten, die auch Neider
und Gegner nicht bestreiten können.
Ganz ließ ihn
die Politik noch nicht los. Er wusste (und sagte es auch): «Für die Zeit
nach Kohl bin ich zu alt, für die Zeit mit Kohl nicht geeignet.» Aber
als Edmund Stoiber ihn im Bundeswahlkampf 2002 als
Schatten-Superminister für Wirtschaft, Arbeit und Aufbau an seine Seite
holte, erlag er noch einmal dem Reiz des Politischen. Gerhard Schröders
Sieg durchkreuzte seine Rechnung.
So blieb er bis
2003 Vorstandsvorsitzender der Jenoptik. Nach zwölf Jahren gab er das
Amt auf. Heute ist er Deutschland-Chef von Merrill Lynch.
Marlis Prinzings
Späth-Biografie zeichnet das Bild eines Mannes, der sich
aus kleinen
Verhältnissen emporgearbeitet hat – ein lebendiger Beweis dafür, dass
soziale Aufwärtsmobilität in Deutschland kein leeres Wort ist. Sie
porträtiert einen Politiker, dem die Last der Macht wie die Lust an ihr
vertraut war; der in der Politik tiefe Erfüllung fand, aber auch tiefe
Stürze erlitt; dessen wirtschaftliches Konzept die Agenda 2010
vorwegnahm und die Koalitionsvereinbarung der schwarz-roten Koalition an
Ausgefeiltheit bei weitem übertraf. Dem europäischen
Gleichschaltungsdrang hielt er die lebendige Vielfalt der Regionen
entgegen.
Lothar Späth
lebte nicht von der Politik, sondern für das Gemeinwesen.
Bücher und
Kolumnen schreibt der Neu-Bankier heute, hält Vorträge und ist
in vielen
Stiftungen aktiv. Es ist nicht übertrieben, ihn als Verkörperung des
Besten an jener zweiten bundesrepublikanischen Führungsgeneration zu
sehen, die unserem Land in den letzten Jahrzehnten ihren Stempel
aufgedrückt hat: ideologiefrei und pragmatisch, engagiert und dynamisch.
Der rastlose Schwabe ist ein Mann vieler Gaben und Begabungen – einer,
der in der Tat alles kann außer Hochdeutsch.
Hamburg, im Mai
2006
Theo Sommer